Biodiversität realisieren

16.06.2025

Autor

Jürgen Utz

Jürgen Utz 

Leiter Nachhaltigkeitsentwicklung

LIST AG

Blogbeitrag

Biodiversität realisieren

Kollektive Betriebsblindheit als Risiko

„Ich sehe was, das du nicht siehst … und das macht Wasser und Luft sauber, fängt CO2 ein, lässt unsere Nahrung wachsen und schützt unsere Gesundheit.“

Was wird gesucht?

Ökosystemleistungen (ÖSL).

Die Ökosystemleistungen beschreiben das komplexe Zusammenspiel der Biodiversität, also der Vielfalt der Gene, der Arten und der Ökosysteme, welche das Leben ermöglicht, wie wir es kennen und ein Teil davon sind. Klingt nach „Kinderweisheit“, tatsächlich sind wir bei den ÖSL-Fakten aber betriebsblind. Wir agieren und argumentieren davon frei weiter in den von uns etablierten Logiken, auch die Immobilien- und Baubranche fremdelt mit dem Thema Biodiversität.

Derweil sind die Verluste erschreckend1 und sollten so bekannt sein, wie alles rund um den Klimawandel. Denn am Ende geht es um ein und dasselbe: Prozesse, mit denen das Leben sich selbst erhält – auch uns.

Wir schauen zu sehr „nur“ auf die kurzfristigen Risiken und übersehen die strukturellen Veränderungen des Spielfelds selbst: Klima und Ökosysteme. Bruno Latour (franz. Soziologe & Philosoph) sagte treffend: „Die Natur ist nicht mehr die Kulisse eines Theaters, auf dem die menschliche Geschichte gespielt wird, sie betritt die Bühne.“ Dies zu ignorieren, ist riskant: als Gesellschaft, Unternehmen, individueller Entscheider. Der IPBES warnt vor diesen Risiken ungefähr so lange, wie der IPCC vor dem Klimawandel2. Wer also sein Geschäftsmodell schützen will, muss sich der Biodiversität annehmen.

Denn sind Ökosysteme zu stark geschädigt, beschleunigt dies den Klimawandel, was jenseits der +2 Grad Grenze wahrscheinlich Ökosysteme großflächig und dauerhaft zerstört3. Die drastischen Folgen, nicht nur für das Klima, fallen in die Kategorie „to risky to bet on“ und „to be avoided whatever it takes“, Es lohnt schlicht nie, da man nicht gewinnen kann. Die Natur hat am Ende immer Recht.

Um den Status quo einmal deutlich zu machen:

  • 85 % der Lebensräume in Europa sind geschädigt4
  • 60 % der Lebensraumtypen in Deutschland sind in schlechtem Zustand
  • 43 % der 70.000 bewerteten Arten sind stark gefährdet oder vom Aussterben bedroht5
  • 100 % Mikroorganismen im Boden sind noch nicht erfasst

Aktiv den Konstruktionsfehler im System korrigieren
Trotzdem nutzen 70 % der Unternehmen keinen Standard zur Erfassung ihrer Biodiversitätsrisiken6 und die Themen Biodiversität und Ökosystemleistungen laufen aktuell unter „nice to have“ oder „Trend“. Denn die aktuelle Marktlogik fragt: „Was ist wichtiger: 1 % mehr Umsatz oder ein Erhalt der ÖSL?“

Man spürt direkt die kognitive Dissonanz, also zwischen zwei Dingen entscheiden zu müssen, die in der realen Welt nicht im Gegensatz stehen können. Solange Umsatz auf Kosten der eigenen Gesundheit oder Ökosystemleistungen geht, liegt ein Fehler im System vor. Weder bildet (1) www.wwf.de/living-planet-report/; https:// www.ipbes.net/global-assessment; www.ipbes. net/transformative-change-assessment dieses die zukünftig aus dem Verlust von ÖSL resultierenden Risiken ab, noch setzt es für Natur einen Wert an oder schützt diese hinreichend via Ordnungsrecht. Dies kann und wird so nicht bleiben. Indikatoren hierfür sind Initiativen im Finanzmarkt und Veröffentlichungen, wie zuletzt von der Europäischen Zentralbank (EZB)7, die auf eine intakte Natur als unabdingbare Grundvoraussetzung für wirtschaftliche Stabilität verweisen. Und sich in eine Reihe namhafter Beiträge wie Dasgupta-Report8, The-Green-Scorpion9, World Economic Forum10, UNEP-FI Reports11 und viele mehr einreiht. Wohlgemerkt: alles Beiträge mit Fokus auf „Folgen für die Wirtschaft“ und entsprechenden Experten.

Die Risiken sind also klar. Der Business Case entsteht somit aus einer einfachen, analytischen Schlussfolgerung: der Klimawandel und die Verluste an Ökosystemleistungen sind da, nehmen zu und verstärken sich wechselseitig. Das ist Naturwissenschaft. Und Europa erwärmt sich im Schnitt doppelt so schnell, wie der Rest der Erde. Auf dem aktuellen Klimapfad in Richtung +3° Grad12 frisst so die Rendite von heute das Geschäftsmodell der Zukunft zum Frühstück13. Und dies sagen nicht Klimaforscher, sondern u.a. Vertreter der Versicherungswirtschaft.

(1) www.wwf.de/living-planet-report/; https:// www.ipbes.net/global-assessment; www.ipbes. net/transformative-change-assessment
(2) https://www.cbd.int/rio
(3) www.ipbes.net/events/ipbes-ipcc-co-spon sored-workshop-biodiversity-and-climate-change http://doi.org/10.1098/rstb.2021.0394
(4) www.consilium.europa.eu/de/infographics/ state-of-eu-nature/#0
(5) www.oekom.de/buch/faktencheck-arten vielfalt-9783987260957; https://www.feda.bio/de/faktencheck-artenvielfalt/
(6) business.wwf.nl/globalassets/pdf/ rapporten/wwf_int--deloitte_nature-is-now_web-1.pdf
(7) www.ecb.europa.eu/press/economic-bulle tin/articles/2024/html/ecb.ebart202406_02~ae87a c450e.en.html
(8) www.gov.uk/government/collections/ the-economics-of-biodiversity-the-dasgupta-review
(9) www.ngfs.net/en/publications-and-stati stics/publications green-scorpion-macro-criticality- nature-finance
(10) www3.weforum.org/docs/WEF_New_Na ture_Economy_Report_2020.pdf; https://www.weforum.org/publications/global-risks-re port-2025/digest/
(11) www.unepfi.org/industries/banking/ nature-target-setting-guidance/
(12) climateactiontracker.org/global/ cat-thermometer/
(13) www.linkedin.com/pulse/ climate-risk-insurance-future-capitalism-g%C3%B Cnther-thallinger-smw5f/

Abb. 2 stellt vereinfacht die wesentlichsten Effekte von ÖSL-Verlusten über die verschiedenen Wirkketten dar und zeigt, wie am Ende die Immobilienwirtschaft in-/ direkt betroffen ist.

Trotzdem hören wir vielerorts die Frage „Warum soll ich jetzt schon investieren?“. Weil Immobilien fester Bestandteil vieler Anlagestrategien und Vermögen sind, welche diese Risiken sehen werden. Zudem kann Kapital nicht beliebig umschichten in andere Anlageformen und die Risiken entstehen global. Deshalb haben der Regulator, die Versicherer und zunehmend auch Investoren diese Risiken im Blick14. Wie lange ist hier „Wegsehen“ wohl noch erlaubt?

Analog zur ersten Abbildung sind nachfolgend die ÖSL-Verluste in Folge der aktuellen Strukturen in weiten Teilen der Wirtschaft. Dabei wird klar: Abhängigkeiten sind da, keiner kann allein die Lösung realisieren.

Ganz im Sinne der doppelten Wesentlichkeitsanalyse laut CSRD ist offenkundig, wie wesentlich Biodiversität und Ökosystemleistungen (ESRS E4) für unsere Branche sind. Aktuell erhöhen wir durch die negativen Auswirkungen (impact materiality) weiter unsere finanziellen Risiken (risks) in der physischen, transitorischen und systemischen Dimension.

A bisserl was geht immer

Auf die Transformation der „Spielregeln des Systems“ warten? Nee, lieber direkt Anfangen. Denn wir können als Immobilienwirtschaft schon viele Maßnahmen umsetzen. Damit nun zu beginnen ist geboten, denn einige davon brauchen Zeit, um zu wirken, sprich zum Wachsen.

Man kann auf drei Ebenen loslegen:

  1. Lieferkette,
  2. Standort und Gebäude,
  3. Konstruktion und Material.

Die (1) Lieferkette betrachtet, wo und wie Materialien gewonnen und verarbeitet werden. Hier geht es u. a. um den Schutz von sensiblen Gebieten, z.B. vor Entwaldung oder Verschmutzung. Ein wichtiges Thema.

Damit verbunden sind (3) die Konstruktion und Materiewahl, vor allem die Frage nach der Reduktion des Bedarfs an neuen Ressourcen durch zirkuläres Bauen sowie die lokale Vermeidung von Schadstoffeintrag, z.B. durch Biozide15.

Der wichtigste Punkt ist (2) der Erhalt und die Schaffung von Habitaten mit hoher Biodiversität. Sowohl was den Verbund von Flächen angeht wie auch am einzelnen Standort und Gebäude. Hier sind die Maßnahmen vielfältig und in diversen Leitfäden beschrieben16.

Wieso sollte man investieren? Weil der Verlust von Ökosystemleistungen negative Auswirkungen auf Immobilien hat, denen man so begegnen kann. Schlicht: Werterhalt durch Risikomanagement.

Um in einer einfachen Analogie zu bleiben: Wer das FM abschafft und nicht in die Instandhaltung investiert, dessen Immobilie verliert an Wert, wird für Vermieter unattraktiv und teurer im Unterhalt. Weil dann z.B. die TGA schlechter wird, der Aufzug ausfällt, etc.

Wenn man die ÖSL nicht sichert, passiert mittelfristig genau dasselbe. Nachfolgende Tabelle gibt einen ersten Überblick dazu.

Die Vorteile dieses Risikomanagements liegen auf der Hand und Regulator, Bank und Co. werden danach fragen. Dies ist strukturell schon angelegt und kann bereits beim nächsten Projekt relevant sein, im Zweifel indirekt über die Frage nach Klimaanpassungsmaßnahmen. Übrigens: Fördermittel gibt es auch noch.

Was oft übersehen wird ist das Potenzial kleiner Anpassungen und des FM im Bestand. Erster Schritt, wenn der Artikel gleich zu Ende ist: Termin für Check der Bestandsimmobilien. Denn „a bisserl was geht immer“, ob nun Veränderung der Mahdfrequenz, Neophyten entfernen, Nisthilfen installieren, Beleuchtung anpassen, etc.

Für alle ohne Bestand: Wissen aufbauen, Experten suchen, Pilotprojekt identifizieren und loslegen.

Und für alle gilt: Freude daran haben, Problemlöser zu sein

(14) www.eiopa.europa.eu/system/fi les/2023-03/EIOPA%20Staff%20paper%20-%20 Nature-related%20risks%20and%20impacts%20for%20 insurance.pdf; www.ngfs.net/en/what-we-do/nature-rela ted-risks; www.wsj.com/articles/ business-is-facing-up-to-the-risks-of-destroy ing-the-natural-world-65be8b78?msockid=2b 877c1885a460e60228690384776174
(15) https://doi.org/10.1016/j.envpol.2024.125242
(16) www.gebaeudegruen.info/wp-content/ uploads/2025/01/BuGG-Fachinformation_Biodiver sitaetsgruendach_03-2020_1.pdf; www.ioew. de/fileadmin/user_upload/BILDER_und_Downloadda teien/Publikationen/2015/NATURWERT_M%C3%BCl ler__Mohaupt__Schulz_et_al.__2015__Wege_zum_na turnahen_Firmengel%C3%A4nde.pdf www.bestellen.bayern.de/application/ eshop_app000007?SID=278925083&ACTIONxSESSx SHOWPIC(BILDxKEY:%2703500267%27,BILDxCLAS S:%27Artikel%27,BILDxTYPE:%27PDF%27 bfn.bsz-bw.de/frontdoor/index/index/docId/1

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